Die Stiftung Anerkennung und Hilfe hat in den vergangenen Jahren Menschen unterstützt, die zwischen 1949 und 1975 als Kinder oder Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland bzw. im Zeitraum von 1949 bis 1990 in der ehemaligen DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an den Folgen leiden. Nach zweimaliger Verlängerung endet die Arbeit der Stiftung zum 31.12.2022. Mit diesem Datum schließt auch die von der Lebenshilfe Berlin im Auftrag des Landes Berlin seit August 2017 geführte Anlauf- und Beratungsstelle. Die beiden Beraterinnen Jutta Seubert und Josefine Stockmann blicken auf eine intensive und erkenntnisreiche Zeit zurück.
Nach über fünf Jahren schließt am 31.12. die Beratungsstelle in Marzahn. Wie fühlt sich das an?
Schon ein bisschen komisch. Wir haben so viele Geschichten gehört, unterschiedliche Menschen kennengelernt und Beziehungen geknüpft. Jetzt müssen wir das loslassen. Das fällt uns nicht leicht, aber die Auseinandersetzung mit dem Thema geht ja weiter. Alles in allem war es eine tolle Arbeit, wir konnten den Prozess der Anerkennung von Anfang bis Ende begleiten.
Erzählt mal ein bisschen von eurer Beratungsarbeit.
Nach einem Erstkontakt am Telefon oder per E-Mail führten wir Beratungsgespräche, in unserer schön eingerichteten, barrierefreien Beratungsstelle oder auch an Orten, die sich die Betroffenen gewünscht haben. Wir haben den Betroffenen einen geschützten, vertrauensvollen Rahmen angeboten, in dem sie ihre Geschichten erzählen konnten. Es war wichtig, dass sie entscheiden, was sie erzählen, dass sie immer eine Pause machen oder das Gespräch abbrechen konnten. Es gab auch Menschen deren Geschichte noch dunkel war. Ihnen haben wir Aktenrecherche nahegelegt. Ein großer Teil unserer Arbeit war, in den Jugendämtern, Archiven und Einrichtungen nachzuforschen. Wir haben den Betroffenen anschließend angeboten, gemeinsam die Akten anzuschauen. Manchmal war es heftig, wie über jemanden geschrieben wurde, derb, demütigend und negativ.
Wie viele Beratungen habt ihr durchgeführt?
Wir hatten 648 Anmeldungen.
Welche Unterstützungsleistungen haben die Betroffenen erhalten?
Für das erfahrene Leid und Unrecht gab es 9.000 Euro. Für Arbeit, bei der nicht in die Rentenversicherung eingezahlt wurde, gab es eine Rentenersatzleistung je nach Zeitraum 3.000 oder 5.000 Euro. Das ist eine Anerkennung und keine Wiedergutmachung. Das haben wir immer gesagt.
Wie seid ihr mit den vielen Schilderungen von Leid und Unrecht umgegangen?
Mir hat bei der Verarbeitung oft der Mensch geholfen, der mir gegenübersaß. Laut Aktenlage von damals hätte er z. B. nie die Selbständigkeit und die Persönlichkeit haben können, die er jetzt hat. Das war sehr ermutigend. Auch die Erfahrung, wie gut einige Betroffene erzählen und reflektieren konnten, obwohl Nahestehende dies im Vorfeld nicht für möglich hielten, war hilfreich. Betroffene haben oft Erleichterung ausgedrückt: “Danke, ich bin so froh, dass ich das erzählen konnte, dass mir jemand zugehört hat, dass mir jemand geglaubt hat.“ Natürlich waren auch die Supervision oder das kollegiale Gespräch für die Verarbeitung nützlich.
Was war in den letzten Jahren besonders herausfordernd?
Wir mussten leider einige Anträge von Betroffenen ablehnen, weil z.B. die Einrichtung oder der Zeitpunkt der Unterbringung, nicht den formalen Kriterien der Stiftung entsprachen. Manchen Einrichtungen, Angehörigen oder rechtlichen Betreuer:innen fiel es schwer sich mit dem Thema auseinandersetzen, vor allem bei non-verbalen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen. Die Beratung von gehörlosen Menschen war für uns neu. Wir wissen jetzt, dass es noch viele Barrieren zwischen hörender und nicht hörender Welt gibt. Einige Gruppen, wie blinde Menschen, körperbehinderte oder psychiatrieerfahrene Menschen haben wir trotz umfangreicher Öffentlichkeitsarbeit kaum erreicht.
Was war wichtig und was habt ihr gelernt?
Wir haben gelernt, wie wichtig es ist, unvoreingenommen einen Gesprächsraum zu geben, einfach zuzuhören und dem Gegenüber zu glauben. Immer wieder hörten wir von den Betroffenen aus der Zeit, in der ihnen Unrecht geschah: „Da war niemand da, der mir nah war.“ Betroffene brachten zu den Gesprächen oft Angehörige, Ehepartner:innen, rechtliche Betreuer:innen etc. mit. Diese Menschen hörten die Erlebnisse häufig das erste Mal und waren berührt davon. Für die Betroffenen, war es teilweise sehr wichtig, Lücken in ihrer Biografie zu schließen. Da haben ihnen unsere Gespräche und die Aktenrecherche sehr geholfen. In den Akten standen jedoch oft Dinge, die überhaupt nicht mit unserer Wahrnehmung der Person übereinstimmten. Dazu muss man wissen: Früher waren Fehldiagnosen verbreiteter. Toll war es, dass für unsere Entscheidung immer die Glaubwürdigkeit der Person und nicht die Aktenlage entscheidend war, auch wenn es keine Nachweise zu der Unterbringung mehr gab.
Welche Schlüsse können aus der Arbeit der Stiftung für die Unterstützung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung heutzutage gezogen werden?
Es ist wichtig, immer im Gespräch zu bleiben. Wir haben heute schon viel erreicht, wir arbeiten viel ressourcen- und personenzentrierter, aber es gibt immer noch Verbesserungsbedarf. Um gut in die Zukunft zu gehen, ist es notwendig aus der Vergangenheit zu lernen und sie aufzuarbeiten. Einige Einrichtungen haben sich dem vorbildlich gestellt, haben die Bewohner:innen informiert und die Aufarbeitung begleitet. Es ist bedeutsam, die Menschen mit den Unrechtserfahrungen zu hören, auch weiterhin für sie Anlaufstellen zu schaffen, nachdem die Stiftung beendet ist. Gerade jetzt in Zeiten vom Fachkräftemangel müssen wir aufpassen, dass es nicht wieder zu einer minimalen Basisversorgung kommt. Ein strukturelles Problem damals war auch fehlendes (Fach-) Personal.